Donnerstag, 10. September 2015

Quo vadis Europäische Union (EU)?


Seit die sogenannte Euro- bzw. Schuldenkrise, insbesondere in Zusammenhang mit Griechenland, auf der täglichen Agenda der Medien steht, lesen und hören wir ständig von dem angeblichen Monster, welches EU bzw. Europäische Währungsunion (EWU) heißt und seine Kinder (die Mitgliedsstaaten) frisst. Wir werden konfrontiert mit unzähligen Weisheiten von Politikern, Wissenschaftlern aller Disziplinen sowie Journalisten und auch den Leserbriefen vieler Bürger, durch die wir erfahren, wie undemokratisch, unsolidarisch, technokratisch, erpresserisch, kapitalistisch, ja sogar terroristisch die Organe der EU, die primär von Deutschland beherrscht sind, mit ihren Mitgliedsstaaten umgehen. Alle diese kritischen Stimmen sehnen sich nach einer anderen, angeblich demokratischeren EU, offensichtlich ohne Regeln, aber mit vielen Rechten und vor allem ohne Pflichten. Alle diese „klugen und fortschrittlichen“ Geister haben vermutlich eine utopische kommunistische EU-Gesellschaft im Hinterkopf, in welcher jedes Mitglied frei nach seinen Bedürfnissen leben kann, ohne sich dabei darum zu kümmern, wer die Güter, die zu seiner zufriedenstellenden Bedürfnisbefriedigung erforderlich sind, bereitstellt.

Diese Geister mit ihrem provozierenden und arroganten Denken nehmen allerdings nicht wahr, dass mindestens 80% der EU-Bürger diese utopische EU nicht nur nicht wollen, sondern im Gegenteil sogar mit der heutigen tatsächlich existierenden EU und mit der EWU relativ zufrieden sind. Sie hoffen lediglich, dass endlich ihre Politiker den vertraglich vereinbarten und tatsächlich existierenden Ordnungsrahmen der EU, der in den letzten 60 Jahren nicht nur Frieden, sondern auch breiten Wohlstand bisher unbekannten Ausmaßes gebracht hat, endlich sorgfältig pflegen und ohne Wenn und Aber vollständig, bevor es zu spät ist, einhalten. Eine kurze Präsentation dieses realisierten und mehrheitlich gewollten, aber in der letzten Zeit viel geschmähten europäischen Ordnungsgebildes möge hoffentlich  zur Ernüchterung vieler beitragen.

Die EU von heute

Heute besteht die EU aus 28 europäischen Ländern [1], die sich freiwillig auf gemeinsame Werte und politische sowie ökonomische Systeme im Sinne von „Contitio sine qua non“, d.h. unabdingbarer Voraussetzungen, geeinigt haben.

Die geltenden europäischen Werte

Die gemeinsamen Werte sind die deklarierten Menschenrechte, wie sie in der Charta der Vereinten Nationen sowie in den Statuten des Europarats formuliert worden sind [2]. In beiden Institutionen sind alle 28 EU-Länder Mitglieder, die sich verpflichtet haben, den Menschenrechten, demokratischen Grundsätzen und rechtstaatlichen Grundprinzipien in ihren Ländern permanent Geltung zu verschaffen. Konkret müssen Ziele wie Menschenwürde, individuelle Freiheit, Gerechtigkeit, ökonomische und soziale Sicherheit, wie ökonomischer Fortschritt bzw. breiter Wohlstand, sowohl national als auch europäisch angestrebt werden. Es ist kein Zufall, dass sich die EU heute nicht nur als eine Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft, sondern auch als eine Werte-, Lebens- und Verantwortungsgemeinschaft versteht. In den letzten 60 Jahren haben diese Werte zu einem gemeinsamen europäischen Recht geführt, in dem die Freiheit des Einzelnen sowie seine Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft ihren Ausdruck finden. Ebenfalls ist das Bekenntnis zur Toleranz und zur Humanität ein maßgebender europäischer Grundwert.

Das geltende europäische politische System

Alle Länder, die Mitglieder der EU sind, müssen eine Art von parlamentarischer Demokratie realisiert haben. Die typischen Merkmale aller Varianten einer solchen Demokratie sind Rechtstaatlichkeit (Verfassungsmäßigkeit), freie Wahlen, Geltung des Mehrheitsprinzips bei der Bildung der Regierung, die Akzeptanz der Opposition, Meinungs- und Pressenfreiheit u.a.

Die EU-Länder haben sich darüber hinaus zusätzlich auf ein politisches System der EU geeinigt, welches aus einem supranationalen Zusammenschluss von souveränen Staaten entstand, und ein einmaliges (sui generis) - nicht nur für Europa sondern für die ganze Welt – politisches staatsähnliches Gebilde darstellt.
Diese freiwillig gewählte und von allen Mitgliedsstaaten vertraglich akzeptierte „Konstruktion“ der EU ist eine Mischung eines staatlichen Modells zwischen einem „losen“ Staatenbund und einem Bundesstaat, die in Deutschland als Staatenverbund bezeichnet wird [3].

Diese Konstruktion ist offensichtlich vertraglich bewusst so gewählt worden, weil bisher viele der EU-Länder und ihre Bürger noch nicht sicher sind, ob sie tatsächlich einen europäischen Bundesstaat – obwohl dies die ursprüngliche Intension war - anstreben bzw. haben wollen.

Die Mitgliedsstaaten haben sich zurzeit dennoch mit völkerrechtlichen Verträgen auf sieben politische europäische Institutionen geeinigt, an welche, so ihre Verpflichtung, sie ganz oder teilweise viele ihrer Souveränitätsrechte übertragen haben. Diese europäischen Institutionen mit unterschiedlichen rechtlichen und politischen Aufgaben stellen das politische System der EU bzw. der EWU dar.  Diese Institutionen sind:

das Europäische Parlament,
der Europäische Rat,
der Rat der Europäischen Union (auch „Ministerrat“ genannt),
die Europäische Kommission,
der Gerichtshof der Europäischen Union,
die Europäische Zentralbank und
der Europäische Rechnungshof.

Das europäische ökonomische System

Jedes europäische Land, welches Mitglied der EU werden will oder ist, muss eine Variante des Ökonomischen Systems der Marktwirtschaft in seinem Land realisiert haben. Dieses Ökonomische System ist nicht etwas Abstraktes, sondern hat viele konkrete Grundregeln, die permanent unter der Aufsicht und der Kontrolle der genannten europäischen Institutionen stehen und von allen Mitgliedsstaaten eingeführt und eingehalten werden müssen. In allen Mitgliedsstaaten müssen in Zusammenhang mit der Marktwirtschaft zwei Basisprinzipien gelten: das Prinzip der Subsidiarität (der eigenen Verantwortung) und das Prinzip der Solidarität. Das erste Prinzip (Subsidiarität) verlangt, dass alle Mitgliedsstaaten und ihre Bürger verpflichtet sind, alles, was sie können, nicht nur zum eigenen Nutzen, sondern auch zugunsten alle Mitglieder leisten müssen. Das zweite Prinzip (Solidarität) verlangt, dass die stärkeren Mitglieder der Gemeinschaft den schwächeren helfen müssen, damit auch sie in absehbarer Zeit stark werden können.

Solche Verhaltensweisen und Leistungen sind allerdings nur dann möglich, wenn die einzelnen Grundregeln, die für ein optimales Funktionieren des marktwirtschaftlichen Systems erforderlich sind, gründlich beachtet werden. Diese sind unter anderem folgende:

Wettbewerb auf allen Märkten,
primär privates Produktionsmitteleigentum,
ausschließliche Haftung der ökonomisch Handelnden,
staatlich garantierte (aber rechtlich erlaubte) Vertragsfreiheit zwischen den Handelnden,
offener (freier) Zugang in allen Märkten für alle Akteure,
ein staatlich garantiertes, aber von der Politik unabhängiges Währungssystem,
staatlich garantierte Mindestlöhne,
staatliche Regulierung der Bewirtschaftung von Umweltgütern und
ein staatlich garantiertes Sozialsystem [4].

Je genauer und konsequenter diese Regeln von den einzelnen Mitgliedsstaaten realisiert werden, umso erfolgreicher sind die einzelnen europäischen Staaten auf ökonomischer und sozialer Ebene.

Schlussfolgerung

Die hier kurz dargestellten Werte, die politischen und die ökonomischen europäischen Systeme, haben alle EU-Länder freiwillig akzeptiert. Und sie haben sich verpflichtet, diese so gut wie möglich zu realisieren. Die Institutionen stellen somit die heutige EU dar, welche die europäischen Bürger auch mehrheitlich akzeptieren und qualitativ verbessern wollen. Daher ist die Frage berechtigt, welches Europa alle diejenigen heute wollen, die von einem anderen Europa sprechen?

Ist jemand Antieuropäer und Antidemokrat, wie z.B. Frau Merkel oder Herr Schäuble, wenn sie daran erinnern und darauf bestehen, dass die oben genannten europäischen Regeln und Grundsätze, die von allen freiwillig  akzeptiert wurden, eingehalten werden müssen? Wie kann man daraus einen deutschen hegemonialen Anspruch in Europa ableiten, wie der griechische Ministerpräsident Herr Tsipras oder die deutschen Europaabgeordneten Reinhard Bütikofer und Sven Giegold oder die ehemaligen Grünen Prominenten Joschka Fischer oder Antje Vollmer behaupten? Dass linke Prominente wie Gregor Gysi und Sahra Wagenknecht oder auch die extremrechte Französin Marine Le Pen  ein anderes Europa wollen, ist zwar von ihren Ideologien her verständlich, doch sagen auch sie nicht eindeutig, ob sie ein Europa sowjetischen oder nationalsozialistischen Typs haben wollen. Die europäischen Bürger, die die realisierte EU wollen, sind meines Erachtens verpflichtet, sich aktiv gegen solche antieuropäische Strömungen zu wehren, bevor es zu spät ist.    


[1] Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien (Vereinigtes Königreich), Irland, Italien, Kroatien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Niederland, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Schweden, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechische Republik, Ungarn, Zypern.

[2]  Vgl. http://www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf

[3]  Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Politisches_System_der_Europ%C3%A4ischen_Union

[4] Vgl. hierzu Eucken, Walter (1952), Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Tübingen.